"Psst" sagt der Engel

Heute morgen schon in den Spiegel geschaut? Oder einfacher Test: nehmen Sie Ihren Zeigefinger und legen ihn zwischen Nase und Oberlippe. Spüren Sie die kleine Mulde?
Der Talmud, die heilige Schrift der Juden erzählt: nicht die Hände der Hebamme berühren das Kind zum ersten Mal. Es ist der Finger eines Engels. Kurz vor der Geburt kommt ein Engel zum Kind und flüstert ihm alles, was es zum Leben braucht, ins Ohr. Während das Kind zur Welt kommt, legt ihm der Engel seinen Finger auf die Stelle zwischen Nase und Munde. „Psst“ sagt der Engel. „Bewahre das, was ich dir gesagt habe, wie ein Geheimnis in deinem Herzen!“ Zurück bleibt die kleine Mulde, die Sie zwischen Oberlippe und Mund haben.
Eine originelle Geschichte.
Ich habe drüber geschmunzelt: Ein Engel, der dem kleinen Erdenbürger alles, was es zum Leben braucht, zuflüstert. Ein Bote Gottes, der dafür sorgt, dass in uns Menschen alles steckt, damit unser Leben gelingt? Gott legt in uns alles, was uns ausmacht in uns hinein. In jedem Menschen hat Gott alle Begabungen, alle Fähigkeiten, alle Fertigkeiten angelegt. Der Grundstein ist gelegt!
Es gilt nur noch das zu wecken, was im Inneren ruht. Der Gedanke fasziniert mich. Weiter gedacht heißt das doch: schaue Dir Dein Gegenüber an. Begegne ihm offen. Versuche zu spüren, was diesen Menschen ausmacht. Was Gott in genau in diesen Menschen hineingelegt hat.
Wenn ich Kids morgens als Lehrer in der Schule begegne, heißt es: wecke, was in ihnen steckt! Entdecke den Schatz, den Gott geschenkt hat!
Wenn ich Erwachsenen begegne, vielleicht: ein Geheimnis steht vor dir. Um dieses Geheimnis zu lüften, schaue genau hin. Urteile nicht vorschnell!
Wenn ich einen treffe, der mir sogar nicht liegt, werde ich herausgefordert: Stopp. Nimm dir doch den Moment genau hinzusehen, was Gott dir hier zumutet oder dir zutraut damit umzugehen!
Also wenn heute jemand vor mir steht, nicht Hand aufs Herz, sondern Zeigefinger zwischen Nase und Mund – und dran gedacht: ein Geschenk, ein Geheimnis Gottes steht vor Dir!
Christian Schöneberger, Gemeindereferent in der Pfarrei Merzig St. Peter
