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Gedanken zur kleinen Seejungfrau

Auf einem Stein am Meer sitzt die Metallskulptur einer Meerjungfrau
Datum:
14. Juli 2025
Von:
Rainer Stuhlträger

Hans Christian Andersen hat dieses Jahr gewissermaßen doppeltes Jubiläum: vor 220 Jahren wurde er geboren, vor 150 Jahren verstarb er. Seine Märchen kenne ich von Kind auf. Einige faszinierten mich, zum Beispiel „Die Schneekönigin“, manche fand ich langweilig, und viele so traurig, dass ich sie lange Jahre nicht mehr hören wollte. Zu letzteren gehört „Die kleine Seejungfrau“. Anders als in dem Disneyfilm, der sich an dieses Märchen anlehnt, stirbt die kleine Seejungfrau und wird zu Meerschaum, ohne Seele. Jedenfalls hatte ich den Schluss des Märchens so in Erinnerung. Dass alles doch noch gut ausgeht, war mir wohl entgangen, weil Andersen das Märchen in sehr dicht gedrängter, für heutige Begriffe recht schwülstiger Sprache beendet. Obendrein folgt dann auch noch ein hoch erhobener pädagogischer Zeigefinger: „Sehen wir aber ein unartiges und böses Kind, so müssen wir Tränen der Trauer vergießen, und jede Träne legt unserer Prüfungszeit einen Tag zu!“ sagen die Geister der Lüfte. Also: Wehe, du bist böse, du zuhörendes Kind, dann bist du Schuld daran, dass arme Wesen wie die kleine Seejungfrau länger leiden müssen!

Sieht man mal von solch unzeitgemäßer Pädagogik ab, finde ich, seit ich erwachsen bin, gerade diese über lange Passagen traurigen Märchen Andersens ergreifend und tröstlich und – ja wirklich – hoffnungsvoll und ermutigend! Und blickt man hinter die märchenhafte Symbolik, so sind sie auch lebensnah. Denn in welchem Leben läuft schon alles glatt? Bei wem geht alles nach Plan? Wer kommt ohne Krisen, Prüfungen und Trauer durchs Leben? Niemand. Da kann es in den schwierigen Zeiten geschehen, dass man nach einer Lösung greift, die ethisch mindestens zweifelhaft, wenn nicht gar verwerflich ist. Nicht unbedingt so dramatisch wie im Märchen, wo die Seejungfrau den Prinzen erstechen soll, um wieder in ihr altes Dasein zurück zu gelangen, aber eben auch nicht wirklich gut.

Die kleine Seejungfrau erkennt, dass der Weg, der ihr vorgeschlagen wird, falsch ist. Zunächst bedeutet das ihr Aus. Aber dann kommt doch noch etwas. Auch das ist nicht sofort einfach und schmerzfrei, es ist kein schnelles Happy End. Es liegt noch ein langer, beschwerlicher Weg vor ihr. Aber es ist eben nicht zu Ende mit ihr, sondern eine neue Chance tut sich auf. Genau betrachtet ist das Ziel, das jetzt vor ihr liegt, sogar ein besseres als das, zu dem sie die schnelle Lösung gebracht hätte. Statt 300 weitere Jahre seelenlos zu leben und sich dann in Nichts aufzulösen, hat sie nun die Aussicht auf eine unsterbliche Seele und kann „Teil nehmen an dem ewigen Glück der Menschen“.

Eine ganze Reihe von Predigten ließen sich auf Grundlage dieses Märchens schreiben. Heute möchte ich nur ein Jesuswort dazu zitieren: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?“ (Matthäus 16,26)

 

Andrea Zarpentin, Pfarrerin der Ev. Kirchengemeinde Mettlach-Perl